Bürgerschaft und Politik im Gespräch – zivilisiert und auf Augenhöhe
Der erste „Wahlkreistag“ Baden-Württembergs im Herrenberger Ratssaal darf als Erfolg für die Demokratie gewertet werden.
Die Stadt Herrenberg hatte gemeinsam mit der GWÖ-Regionalgruppe Herrenberg & Gäu und dem Allianz für Beteiligung e.V. zum ersten Wahlkreistag in Baden-Württemberg eingeladen. Vanessa Watkins (Abteilung Bürgerschaftliches Engagement) und Ulrike Niethammer (GWÖ-Regionalgruppe Herrenberg & Gäu und im Landesvorstand) begrüßten die zufällig gelosten Bürger*innen aller Generationen mit unterschiedlichen Hintergründen und Erfahrungen aus der Herrenberger Altstadt und den umliegenden Gemeinden. Der Einladung folgten fünf Gemeinderatsmitglieder: Petra Menzel (SPD), Claudia Däuble (Freie Wähler), Wilhelm Bührer (FDP), Albrecht Stickel (CDU) sowie Eva Schäfer-Weber von der Frauenliste.
Anni Schlumberger (Allianz für Beteiligung) lobte die Pionier-Leistung der Stadt Herrenberg. Ulrike Niethammer gab einen kurzen Einblick in die Ziele der Gemeinwohl-Ökonomie. Dabei wurde klar, dass Gemeinwohl-Orientierung in Wirtschaft und Politik sich unter anderem auch positiv auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt auswirkt. In einem moderierten Prozess leitete Susanne Socher vom Mehr Demokratie e.V. durch das Dialogformat „Sprechen&Zuhören“.
Sprechen & Zuhören
Dieses ermöglicht in einem geschützten Raum die offene Begegnung zwischen Politik und Bürgerschaft. In Vierergruppen ging es um die Fragestellung: Wie erlebe ich den gesellschaftlichen Zusammenhalt ganz persönlich in meiner Nachbarschaft, in Herrenberg, im Alltag und im Allgemeinen? Jede Person erhielt vier Minuten Redezeit. Es gab keine Zwischenfragen, keine Unterbrechungen. Anstatt des gewohnten Schlagabtauschs sprach nur eine Person, alle anderen hörten zu – unvoreingenommen, neugierig mit offenen Ohren und offenen Herzen.
Die Runde wurde drei Mal zur selben Fragestellung wiederholt. Das weitete nach und nach den eigenen Blickwinkel und führte zu mehr inhaltlichem Tiefgang. Unterschiedliche Perspektiven und Haltungen wurden ausgetauscht, schafften gegenseitiges Verständnis und Vertrauen und bauten Brücken. Es entfaltete sich ein zivilisierter, ehrlicher Austausch über Themen, die unseren Alltag, die Region und unsere Demokratie bewegen – auf Augenhöhe, mit gegenseitigem Interesse und Respekt.
Weitere Fragen
Folgende Fragestellungen wurden behandelt: Wie bedrohen finanzielle Engpässe den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Bildung und das Gemeinwohl? Wie kann in Herrenberg bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden? Wie kann Bürgerbeteiligung in der „Mitmachstadt“ Herrenberg noch besser gelingen? Wie können die mehr als 300 Herrenberger Vereine und das Ehrenamt gestärkt werden? Was kann man tun gegen die zunehmende allgemeine Konsumhaltung? Wie kann man Mitstreiter*innen gewinnen, die eigenverantwortlich nach Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen suchen? Macht Not erfinderisch? Traut man sich auch in Zeiten von Social Media, Internet und der Gefahr, einem Shitstorm ausgesetzt zu sein, seine Meinung frei zu äußern? Wie kann der Blick auf das Positive ausgerichtet bleiben, Werte, Errungenschaften, Erfolge im Land der Dichter und Denker hochgehalten werden – gerade in Zeiten multipler, globaler, sozialer Krisen?
Nach einem stärkenden Mittagessen im Markt-Café begrüßte Herrenbergs Oberbürgermeister Nico Reith die Bürger*innen, Gemeinderäte, den Landtagsabgeordneten Peter Seimer (Grüne) und den Kollegen Hans Dieter Scheerer von der FDP. In Kleingruppen wurden die Fragestellungen des Vormittags gemeinsam mit den politischen Mandatsträger*innen vertieft.
Wahrnehmung von Ängsten, Nöten und Sachzwängen geschärft
Der Wahlkreistag schärfte auf politischer Seite die Wahrnehmungen für Ängste und Nöte der Bürger*innen. Auf der Seite der Bürgerschaft wurden kommunal- und landespolitische Sachzwänge, die das Alltagsgeschäft der politischen Vertreter*innen häufig lähmen, spürbarer.
Beide Seiten waren sich einig: Politik braucht weniger Sachzwänge, weniger top-down, mehr und pragmatische Handlungsspielräume und vor allem Vertrauen in Lösungsorientierung und Handlungskompetenzen der Betroffenen. Bürger*innen äußerten sich positiv zum Wahlkreistag und zum Dialogformat „Sprechen & Zuhören“. Zum Beispiel so: „Die unterschiedlichen Ansichten zu hören, war sehr bereichernd“; „Für mich war beim „Sprechen & Zuhören“ erstmal ungewohnt, nicht gleich auf Gesagtes reagieren zu dürfen, aber es war auch schön, mal in Ruhe sprechen zu können“; „Die Veranstaltung war eine unheimlich wertvolle Erfahrung“; „Im Gegensatz zur Politik im Fernsehen gab es hier keine Showeffekte.“
Aber auch die Landtagsabgeordneten waren berührt. „Ich nehme mit, dass der Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern sehr differenziert war und ganz anders, als man das sonst insbesondere auf Social Media gewöhnt ist“, sagte Peter Seimer. Und Hans Dieter Scheerer meinte: „Ich nehme einiges mit nach Stuttgart und zu meiner Fraktion. Super! Man kann nur sagen: weitermachen!“
Das Fazit: Der Wahlkreistag Herrenberg war ein voller Erfolg für die Demokratie. Eine Nachahmung ist wünschenswert.